Volkstrauertag Veranstaltung

Veröffentlicht am 19.11.2013 in Veranstaltungen

Unser 6. Volkstrauertag Veranstaltung wurde gut besucht, wie immer.
Siegfried Schulz hat uns wieder mit eine Geschichte aus Waldenbuch sehr bewegt.
Dieses Jahr ging es um Rassismus?-Bei uns doch nicht!

Volkstrauertag 2013

Rassismus? - Bei uns doch nicht!

1. Hinführung zum Thema

Rassismus? – Bei uns doch nicht!

Rassist? – Ich doch nicht!

Mögen andere alberne Debatten führen:

• Ob Pippi Langstrumpfs Vater, einst der

Schrecken der Meere, jetzt Negerkönig in

Takatukaland sein darf, oder ob das Wort

„Negerkönig“ politisch inkorrekt ist und geändert

werden muss...

• Ob Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer

und Frau Waas aus dem Paket einen „kleinen

Neger“ ausgepackt haben oder einen kleinen

Schwarzen oder einen Farbigen oder..

Unsäglich dagegen die Diskussion,

• ...ob ein Wirtschaftsminister Rössler mit

vietnamesischen Wurzeln als deutscher

Vizekanzler tragbar sei...

• ...oder das Schweigen in Fran kreich angesichts

der Beleidigung einer schwarzen Ministerin.

Aber :Bei uns in Waldenbuch doch nicht!

Rassismus kommt bei uns nicht vor!

2.Marie Reinhardt.

Der 2. Februar 1860 ist in Waldenbuch ein besonderer

Tag. Am 2. Februar 1860 heiratet die jüngste Tochter

des Waldenbucher Stadtpfarrers Gottfried August

Hauff – sie heißt Julie – den verwitweten Pfarrer von

Dagersheim, Wilhelm Finckh.

Zu ihrem Hochzeitstag hat Julie ihre Freundinnen

eingeladen, darunter auch Marie Reinhardt. Die

Hochzeitsgesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft

von typisch schwäbischen Honoratioren. Sie ist auch

eine exotische Gesellschaft. Denn die Schwester der

Pfarrfrau Hauff ist mit ihrem Mann, dem Pfarrer und

Missionar Dr. Herrmann Mögling aus Mangalore in

Indien gekommen. Also wird auch von fremden

Ländern gesprochen, von indischen Urwäldern und

indischen Menschen, von unbekannten Tieren,

Pflanzen und seltsamen Früchten, von Götzenbildern,

vom Reich Gottes und von dem, was die Missionare

dort in Mangalore tun. Indien ist damals, vor über 150

Jahren, noch viel, viel weiter weg als heute.

Aber Rassist ist niemand in dieser Gesellschaft.

Rassismus ist ein Begriff, der dieser

Honoratiorengesellschaft so fern liegt wie

Mangalore in Indien.

Doch wenige Tage nach der Hochzeit schlägt der Blitz

ein. Die Mutter des Missionars Dr. Mögling hatte sich

unter den Brautjungfern umgeschaut, ob sich eine für

die Arbeit in der Mission und als Ehefrau für den

Missionar Herrmann Anandrao Kaundinja eignen

würde.

Dieser Herrmann Anandrao Kaundinja ist der

Missionarsmutter lieb wie ein eigenes Kind. Mit seinen

dunklen Augen, mit seinem schwarzen Haar, mit

seiner sanften, bescheidenen Wesen war er immer

wieder bei ihr im Aldinger Pfarrhaus zu Gast gewesen.

Jedenfalls in jenen fünf Jahren, in denen er, der Inder,

die fünfjährige Ausbildung zum Missionar in Basel

durchlaufen hatte.

Der Blick der Missionarsmutter und Pfarrfrau fällt auf

Marie Reinhardt. Und so wird Marie wenige Tage nach

der Hochzeit ins Waldenbucher Pfarrhaus gerufen und

dort gefragt, ob sie sich vorstellen könne, nach Indien

zu gehen, in der Mission mitzuarbeiten und dort die

Frau von Herrmann Anadrao Kaundinja zu werden.

Wie gesagt: Der Blitz schlägt ein.

Später schreibt Marie: „Ich erschrak sehr!“ „Es hatte

mich fast gekränkt, dass man mir so etwas zumutete.“

Schrecken! Kränkung! Zumutung!

Rassist? – Ich doch nicht!

Man ist zwar auch im Hause Reinhardt pietistisch

fromm, der Vater hält jeden Tag eine Morgenandacht,

aber das dann doch nicht..!

Inder sind Fremde. Inder sind von ganz weit weg.

Selbst bei den Missionaren gelten sie als „Schwarze“,

auch dann, wenn ihre Haut so hell ist wie unsre.

Herrmann Kaundinja ist Brahmane, seine Haut ist fast

so hell wie unsre. Trotzdem!

Marie Reinhardt muss kämpfen. Zuallererst mit sich

selbst, mit ihrem Rassismus, von dem sie bisher

nichts geahnt hatte. Ich – nach Indien? Ich – einen

Inder heiraten, einen „Schwarzen“? Und was sagen

die anderen, „d`Leut“? Was wird der Vater sagen?

Aber zu Maries großem Erstaunen sagt der Vater ja...

Dann ist da noch die Tante Gottliebin, die in der

Familie Reinhardt mit lebt und die strikt gegen diese

exotische Heirat ist. Sie kann das Ja ihres Bruders

und ihrer Nichte überhaupt nicht verstehen. Die Tante

ist beleidigt. Sie kommt nicht mehr herunter zum

Essen, sie schweigt, ist tief gekränkt.

Rassist? – Nein, Rassist ist niemand in dieser

Familie! Oder doch? Wie wäre es denn bei uns, bei

mir – heute? Anders? Ganz anders?

Selbst die Missionsgesellschaft in Basel zögert. Eine

Europäerin und ein Inder!? Eine „Weiße“ und ein

„Schwarzer“. Kann das gut gehen? Nur zögerlich

stimmt sie zu.

Doch es gab auch Fürsprecher:

Der Vater, die Freundin Julie, jetzt Pfarrfrau in

Dagersheim, natürlich Dr. Mögling. Eine der

Pfarrtöchter im Waldenbucher Pfarrhaus Hauff

bekennt ihr traurig: „ Wenn ich gesund wäre, wäre ich

jetzt an deiner Stelle.“

Soll sie gehen?

Dann treffen die ersten Briefe aus Indien ein.

Herrmann Anandrao Kaundinja beherrscht die

deutsche Sprache in Wort und Schrift bestens. Und

sie, Marie Reinhardt – noch in Waldenbuch – ist, wie

sie selbst später schreibt „dann doch eine glückliche

Braut“ und unterstreicht das Wort glücklich. Noch im

selben Jahr 1860 reist sie nach Indien aus und steht

dort, es ist inzwischen November geworden, in

Mangalore zum ersten Mal ihrem künftigen Mann

gegenüber.

Am 4. Dezember 1860 findet die Trauung statt. Dr.

Mögling thematisiert in der Trauansprache die uralte

christliche Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller

Menschen, spricht von Achtung, Respekt und

Solidarität zwischen Europäern und Asiaten,

Deutschen und Indern, Missionaren und

Missionskindern (wie man das damals nannte).

Muss er davon sprechen? Wissen das die anderen 31

Missionare und Missionsschwestern in Mangalore

nicht schon lange? Sie sind doch keine Rassisten!

Offenbar muss er davon sprechen!

Er spricht von der „Schwachheit“ der europäischen

Christen, spricht davon, dass die Gleichwertigkeit

gewohnter, selbstverständlicher werden müsse. In

seiner Ansprache finden sich Sätze wie dieser: „Ja,

liebe Missionsbrüder, auch ihr dürft euch das merken!“

Und Herrmann Anandrao Kaundinja?

Alles okay? Alles eitel Sonnenschein?

Kaundinja wird später schreiben: „Ich bin ein Fremder

und doch kein Fremder unter euch.“ Und an einer

anderen Stelle: „Ich hatte es schwer gegenüber dem

Rassegeist der Brüder.“

Da ist es wieder, das Wort: Rasse. Rassegeist.

Rassismus.

3. Perspektivwechsel:

Alles okay? Alles eitel Sonnenschein?

Kaundinja wird später schreiben: „Ich bin ein Fremder

und doch kein Fremder unter euch.“ Und an einer

anderen Stelle: „Ich hatte es schwer gegenüber dem

Rassegeist der Brüder.“

Da ist es wieder, das Wort: Rasse. Rassegeist.

Rassismus.

Wer ist dieser Herrmann Anandrao Kaundinja, für den

es in Esslingen auf dem dortigen Ebershaldenfriedhof

noch heute ein Denkmal gibt?

Kaundinja stammte aus einer Brahmanenfamilie. Sein

Vater war Jurist, die Familie ist reich. Er wird von

seinem Vater religiös erzogen. Später erzählt er

gerne, wie sein Vater mit ihm schon früh über jenes

Geheimnis spricht, das wir „Gott“ nennen. Der Vater

erzieht den Sohn religiös – und tolerant.

Kaundinja wurde 1825 geboren, verlor dann schon mit

neuen Jahren Vater und Mutter. Die Großfamilie

übernimmt die Erziehung. Man besitzt Gärten, Güter,

Häuser. Der kleine Anandrao wächst mit vier

Sprachen auf und wird später noch vier weitere

Sprachen erlernen. Dabei sind Sprachen nicht seine

Leidenschaft, sondern Mathematik, Philosophie und

Religion. So kommt es auch, dass er Kontakt zur

Missionsstation in Mangalore sucht, sich taufen lässt

und dort Katechismuslehrer wird. Später – Sie haben

es schon gehört – lässt er sich in Basel zum Missionar

ausbilden.

Ein Inder unter Deutschen? Ein „Schwarzer“ unter

„Weißen“? Er kennt seine „Missionsgeschwister“. Er

muss fürchten, mit seiner Ehe Anstoß zu erregen. Und

er erregt Anstoß. „Er hatte“ – heißt es in einer Quelle –

„doch gelegentlich von einigen zu leiden, die ihm

wenig sympathisch, sondern ihn wegen jeder

Kleinigkeit kritisierten, wo sie meinten, er wolle sich

Europäern gleichstellen.“

Das darf also nicht sein, selbst unter Missionaren,

selbst unter Christen nicht, dass da ein Fremder den

Anschein erwecke, „sich den Europäern gleichstellen“

zu wollen.

Aber Rassisten? Hier ist niemand Rassist..!

Vielleicht noch dies:

• Aus der Ehe Kaundinjas mit Marie Reinhardt aus

Waldenbuch gehen elf Kinder hervor, von denen

drei früh sterben. Nachkommen leben heute

noch in unserer Nähe, zum Beispiel in

Reutlingen.

• Kaundinja setzt sich als Missionar ganz

besonders für die Kastenlosen ein, die Daliths.

Für sie erwirbt er Grund und Boden, für sie

gründet er eine Ansiedlung, ein eigenes Dorf, für

sie kämpft er um eine Kaffeeproduktion, dann

gegen Missernten und gegen den

Bohnenstecher, einen Schädling, der immer

wieder die Kaffeeernte vernichtet.

• Kaundinja wird darüber zu einem armen Mann.

Am Ende hat er sein ganzes Vermögen für die

Kastenlosen eingesetzt. Für ihn und seine

Familie bleibt nichts. Aber das scheint ihn nicht

sonderlich zu berühren.

• Am 1. Februar 1893 stirbt er Indien und wird dort

auch bestattet. Seine Frau, Marie, kehrt danach

nach Deutschland zurück, lebt in Esslingen und

ist dort bestattet.

Kaundinja war ein Grenzgänger zwischen den

Kulturen und Religionen. Er war Inder und Basler

Missionar, Brahmane und evangelischer Christ

württembergisch-pietistischer Prägung.

In allen Höhen und Tiefen seiner Biographie bleibt er

mit seiner sanften, liebevollen, hörsamer,

leidensbereiten und engagierten Art Vorbild - auch für

uns heute – für unser Miteinander in einer

multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft.

4. Und in Waldenbuch?

Rassismus kommt in Waldenbuch nicht vor. Wir

sind keine Rassisten!

Marie Reinhardt und Herrmann Kaundinja, - das ist

über 150 Jahre her, und die beiden haben ja gerade

Rassenschranken überwunden, haben den Rassismus

hinter sich gelassen, wenn auch nicht ohne Kämpfe.

- Juden haben wir in Waldenbuch nicht gehabt. Na, ja

einen Halbjuden. Dem hat man ab und zu in jenen

Jahren 1933 bis 45 ein bisschen Angst gemacht, hat

an seinem Fenster hinauf geschrieben bei Nacht. Aber

sonst?

- Katharina G. und August W. aus Waldenbuch

wurden 1940 in Grafeneck vergast. Geistig behindert.

Aber ist das Rassismus?

- Die Asylbewerber damals in der Notunterkunft beim

Hallenbad... Es war schon gut, dass wir einen

Telefonkette eingerichtet hatten, dass die Polizei kam,

als ein paar junge Männer abends in der Dunkelheit

um die Baracke herum randalierten.

- Sind die türkischen, serbischen, palästinensischen

Mitbürger in unserer Waldenbucher Gesellschaft

angekommen? Und wenn nicht – warum?

- Auf dem Verteilerkasten an der Ecke Dresdner

Straße/Königsberger Straße steht seit vielen Jahren

„ASI“ raus, und das S ist zackig wie die Runen der SS

geschrieben. Irgend jemand hat ein Herz um alles

herum gemalt. Für was stehen wir, stehe ich: Für die

SS-Rune? Für das Herz?

- Und was widr sein, wenn jetzt die ersten Flüchtlinge

– Asylbewerber – bei uns eintreffen? Wie werden wir

sie empfangen?

Sonst nichts?

Doch: Vor über 150 Jahren gab es in Waldenbuch

Menschen, zum Beispiel jene Marie Reinhardt, die

urplötzlich den Rassisten in sich selbst entdeckt

haben, sich dann gegen diesen Wahn in sich

angekämpft und gesiegt haben.

Wir wollen das nicht vergessen.

RASSIST? – ICH DOCH NICHT!

Siegfried Schulz

Im Sommer 2013

Rassismus? – Bei uns doch nicht!

 
 

Zufallsfoto

Siegfried Schulz - Gerechtigkeit

     

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